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Die Grundversorgung von "Neubürgern" und Einheimischen wurde größtenteils über Lebensmittelkarten geregelt. Zusätzlich organisierte sich fast jeder Lebens- und Heizmittel selbst. So sammelte man Beeren, Bucheckern und Brennnesseln und ging "stoppeln", das heißt, man suchte die abgeernteten Felder nach übrig gebliebenen Kartoffeln ab. Aus allen möglichen Getreideresten wurde Ersatzkaffee hergestellt. Glücklich konnten sich diejenigen schätzen, die für Hilfsarbeiten auf dem Land in Naturalien bezahlt wurden. Für viele Alte, Kriegsversehrte, Frauen und Kinder aber blieb Betteln die letzte Möglichkeit.
Die meisten Vertriebenen hatten ihren gesamten Hausrat zurück gelassen. Nun wurden aus ausrangiertem Kriegsmaterial Gebrauchsgegenstände und sogar Spielzeug hergestellt. Der Erfindungsreichtum war groß: Aus Helmen wurden Nachttöpfe oder Siebe, aus Granatstielen Kartoffelstampfer, aus Gasmaskenfiltern Schöpfkellen, aus Geschosshülsen Trinkbecher, aus Flugzeugteilen Zimmeröfen und aus Munitionskisten Spielzeugautos gefertigt.
Der Mangel an Kleidung und Schuhen machte ebenfalls erfinderisch. Wollreste, die man an Zäunen fand, wurden versponnen, aufgedröseltes Sackleinen zum Häkeln genutzt und aus Bettbezügen Kleider handgenäht. Bei allen Witterungsbedingungen wurde im Freien Wäsche gewaschen und zum Trocknen aufgehängt.
Badetag im Flüchtlingslager Allach bei München, zwischen 1945 und 1955. Auf äußerst beengtem Raum mussten in einer Baracke nicht nur alle Habseligkeiten untergebracht, sondern auch der Alltag bewältigt werden. Der Waschzuber zum Baden fand gerade noch Platz.
© Süddeutsche Zeitung Photo / Foto: Heinz Hering
Verteilung von Spenden in Form von Decken und Matten an Flüchtlinge, zwischen 1948 und 1950.
© Stadtarchiv Kiel, 2.3 Magnussen, Sig. 20411
Die Besatzungsmächte begannen 1945 mit der Gründung von deutschen Ländern. Die Sowjets sahen sie als Verwaltungseinheiten, die Westalliierten auch als politische Einheiten eines föderalen Systems. Die Landesregierungen fungierten als oberste Instanz bei der Bewältigung des Flüchtlingsproblems. Innerhalb der Zonen wurden den einzelnen Ländern Quoten zugeteilt. So wurden am 17. Mai 1946 nach zähen Verhandlungen zwischen den Ländern Bayern 42 %, Hessen 31 % und Württemberg-Baden 27 % der für die US-Zone bestimmten Flüchtlinge zugewiesen.
In allen Ländern wurden Flüchtlingsbehörden mit umfassenden Kompetenzen geschaffen, die in die Zuständigkeiten von Ministerien und in das Leben von Vertriebenen und Einheimischen eingriffen. Aufgrund des Kontrollratsgesetzes Nr. 18 konnten sie Wohnraum erfassen, beschlagnahmen und Flüchtlinge Privatleuten zwangsweise zuweisen. Aus gemeinsamer Küchen- oder WC-Nutzung ergaben sich Streitigkeiten der Parteien, die von lokalen Behörden geschlichtet werden mussten. Generell versuchten alle Verwaltungsebenen bis hin zu Landkreisen und Kommunen, möglichst wenige Flüchtlinge aufzunehmen. Auch die Versorgung mit Grundnahrungsmitteln oblag den Behörden, doch war die Zeit bis 1948, in der Hunger ein ständiger Begleiter war, geprägt durch Mundraub, Schwarzhandel und andere Formen legaler und illegaler Selbstversorgung.
Flüchtlingsbetreuungsstelle in Bremen, 1946. Auf dem Flüchtlingsamt in der Gustav-Deetjen-Allee in Bremen konnten Heimatvertriebene nach ihren Familienangehörigen suchen oder "Anträge auf Aushändigung eines Flüchtlingsausweises" stellen. Die Betreuungsstelle wurde am 12. Juli 1945 durch einen Senatsbeschluss eingerichtet. Sie war durchgehend geöffnet und bot für mehr als 100 Personen Übernachtungsmöglichkeiten. Ankömmlinge wurden desinfiziert, registriert und bekamen eine warme Mahlzeit. Sie durften in der Regel nur drei Tage bleiben.
© Staatsarchiv Bremen / Foto: Karl Edmund Schmidt
"Umsiedlung" von Vertriebenen aus Schleswig-Holstein, 1948. Flüchtlinge ziehen aus der Schankwirtschaft Clausen in Meldorf aus. Im Zuge der Vereinbarung von Quotenregelungen der Länder kam es zu "Umsiedlungen" von Flüchtlingen von einem in ein anderes Land.
© Landesarchiv Schleswig-Holstein / Foto: G. Garms / Signatur: Abt. 2003.1 Nr. 7842
Schwarzmarktrazzia in einer der "Gruben" genannten Straßen in Lübeck, Mai 1945.
© St. Annen-Museum für Kunst und Kulturgeschichte der Hansestadt Lübeck - Bildarchiv
Schulspeisung durch das Dänische Rote Kreuz, ab Dezember 1946. Nach dem Zweiten Weltkrieg nahmen ausländische karitative Verbände Schulspeisungen vor, wie hier zum Beispiel das Dänische Rote Kreuz.
© Stadtarchiv Kiel, 1.2 Fotosammlung
Die chaotischen Verhältnisse bei Kriegsende rissen hunderttausende Familien auseinander. Das Deutsche Rote Kreuz (DRK), das Hilfswerk der Evangelischen Kirche und der Caritasverband halfen Millionen von verzweifelten Menschen bei der Suche nach ihren Familienangehörigen. Sie organisierten Suchdienste und richteten eine Vielzahl von Anlaufstellen ein. Vermisste konnten dort von ihren Angehörigen gemeldet werden, woraufhin Flüchtlinge, Vertriebene und heimkehrende Kriegsgefangene gezielt nach den Gesuchten befragt wurden. Bis 1949 konnten die Suchdienste den Verbleib von mehr als sieben Millionen Vermissten klären. Unter den Helfern befanden sich oftmals Vertriebene und Flüchtlinge. Sie wussten am besten, wo die Not am größten war.
Die großen deutschen Hilfsorganisationen, allen voran das DRK und die Hilfswerke der beiden großen Kirchen, schufen zudem eine Vielzahl von Unterstützungsangeboten für die Flüchtlinge und Vertriebenen. Sie appellierten immer wieder an die Nächstenliebe und Spendenbereitschaft der Einheimischen und trugen entscheidend zur Linderung des Flüchtlingselends bei. Auch ausländische Kirchen und Hilfsorganisationen wie die Schwedenhilfe, die "Kirche in Not" des niederländischen Paters Werenfried van Straaten, auch bekannt als "Speckpater", und die Schweizer Spende verteilten in den ersten Nachkriegsjahren Lebensmittel, Sach- und Geldspenden. In den 1950er Jahren wurde diese unmittelbare Nothilfe oftmals von "Hilfen zur Selbsthilfe" abgelöst.
Suchdienstplakat, Hamburg 1946. "... und deine Suchmeldung?" Plakat verschiedener Suchdienste mit der Aufforderung, sich in die Suchdienstkartei einzutragen. Beteiligt waren das Deutsche Rote Kreuz, der Deutsche Caritas Verband und das Hilfswerk der Evangelischen Kirche.
© Stiftung Haus der Geschichte, Bonn
Suchanzeige nach Familienangehörigen aus Nord-Böhmen, 2. Oktober 1945. Ein Flüchtling namens Kurt Leopold schrieb in Zeitz auf diesem Anschlag: "Ich suche meine Angehörigen aus dem Sudetengau".
© Deutsches Historisches Museum, Berlin
Flüchtlinge und Vertriebene verstärkten in Westdeutschland bei Kriegsende und in den Jahren danach das Problem der Arbeitslosigkeit. Für die großen Städte erhielten sie keine Zuzugsgenehmigung. Eine Ausnahme bildete lediglich die gezielte Anwerbung von vertriebenen Bergleuten aus Oberschlesien und von jungen arbeitsfähigen Männern für den Bergbau des Ruhrgebiets.
Auf dem Land und in kleineren Städten, wo die Mehrzahl der Neuankömmlinge zunächst unterkam, fehlte es jedoch grundsätzlich an Arbeitsmöglichkeiten. Hier gab es für sie oft nur schlechtbezahlte Hilfsarbeiten oder Heimarbeit. Die Forderung ehemals selbständiger Bauern "Gebt uns Land" fand zumeist keine Unterstützung bei Behörden und alteingesessenen Landbesitzern, so dass nur wenige wieder einen Hof bewirtschaften konnten.
Bei der Vergabe regulärer Arbeitsstellen wurden in den ersten Jahren nach Kriegsende Einheimische bevorzugt. Schon bald richteten das Hilfswerk der Evangelischen Kirche und die katholische Caritas daher eigene Arbeitsvermittlungen für Flüchtlinge und Vertriebene ein. Fanden die Neuankömmlinge schließlich Arbeit, entsprach diese nur selten ihrer vorherigen Stellung und Ausbildung. Viele mussten einen gesellschaftlichen Abstieg hinnehmen. Noch 1950 fand über ein Viertel der arbeitssuchenden vertriebenen Frauen, die oft allein für ihre Familien sorgen mussten, nur eine Hauswirtschaftsstelle.
Eine Vertriebenenfamilie sucht nach ihrer Ankunft in den Westzonen nach Arbeit und Unterkunft, zwischen 1945 und 1949.
© Süddeutsche Zeitung Photo / Foto: Ursula Röhnert
Ansiedlung von Vertriebenen, 1950. Eine wolgadeutsche Familie auf ihrem Acker in Schwaben.
© Süddeutsche Zeitung Photo / Foto: SZ Photo
Eine Familie aus dem Sudetenland beackert ein Stück Land, 1948. Aus dem Sudetenland kommende Vertriebene haben in Süddeutschland eine neue Heimat gefunden.
© bpk - Bildagentur für Kunst, Kultur und Geschichte / Foto: Hanns Hubmann
Arbeitskräftemangel im Bergbau, 1946. Auf diesem Handzettel wendet sich das Hessische Wirtschaftsministerium an vertriebene und geflüchtete Bergleute. Auf Grund des großen Arbeitskräftemangels im Bergbau bietet es ihnen "Arbeit und Brot".
© Hessisches Hauptstaatsarchiv, HHStAW Abt. 3008 - Bildersammlung
Arbeitskräftemangel im Bergbau, 1946. Auf diesem Handzettel wendet sich das Hessische Wirtschaftsministerium an vertriebene und geflüchtete Bergleute. Auf Grund des großen Arbeitskräftemangels im Bergbau bietet es ihnen "Zigarren, Zigaretten oder Pfeifentabak".
© Hessisches Hauptstaatsarchiv, HHStAW Abt. 3008 - Bildersammlung
Nach der Währungsreform 1948 mussten insbesondere Unternehmen, die ihre Produktion auf den Mangel der ersten Nachkriegsjahre ausgerichtet hatten, aufgeben. Dadurch stiegen vielerorts zunächst die Arbeitslosenzahlen. Langfristig stellte die Währungsreform jedoch die Weichen für die expansive Entwicklung der westdeutschen Wirtschaft und die wirtschaftliche Integration der Neubürger.
Um die hohe Arbeitslosigkeit unter den Vertriebenen wirksam zu bekämpfen und die Belastungen zu verteilen, erfolgten ab 1948 gezielte Umsiedlungen. So nahmen die französisch besetzten Länder, die sich den Neuankömmlingen zuvor verschlossen hatten, nun einen Teil von ihnen auf. Verstärkt setzten auch industriestarke Gemeinden und Kreise auf die gezielte Ansiedlung von Vertriebenen.
Tausende fanden seit Anfang der 1950er Jahre im niedersächsischen Wolfsburg, in der süddeutschen Autoindustrie und an den nordrhein-westfälischen Industriestandorten Arbeit. Jüngere Vertriebene konnten nun oftmals eine Ausbildung absolvieren, in bessere Anstellungen aufsteigen oder den Weg in die Selbständigkeit einschlagen. Auch der nach der Währungsreform einsetzende Bauboom brachte viele männliche Vertriebene in Lohn und Brot. Frauen fanden nun vor allem in der Textil-, Bekleidungs- und Konsumgüterindustrie Arbeit.
Strumpffabrik in Lippstadt/Westfalen, 1954. Eine Arbeiterin im Feinstrumpfwerk Lippstadt steht an der modernen Cottonmaschine aus den USA. Nach dem Krieg lebten rund 3000 Vertriebene in Lippstadt, etwa 10 Prozent der Einwohner. Viele von ihnen hatten auch in ihrer Heimat in der Textilindustrie gearbeitet.
© ullstein bild
Ausbildungsabschluss, 9. August 1953. 76 Lehrlinge beenden erfolgreich ihre Ausbildung im Jugenddorf der Salesianer in Waldwinkel. 320 Lehrlinge waren dort tätig, davon drei Viertel aus Vertriebenenfamilien.
© KNA-Bild
Obwohl die Ausgangslage denkbar schlecht war, gründeten Vertriebene bereits in den ersten Nachkriegsjahren eigene Unternehmen. Bei vielen dieser neu gegründeten Betriebe handelte es sich um Klein- oder Kleinstfirmen, die oft nur einer Vertriebenenfamilie und ein oder zwei Angestellten ein Auskommen gaben.
Insbesondere in Bayern versuchte man nach Kriegsende gezielt, Betriebe anzusiedeln, um bereits ansässige Industrien zu ergänzen und ländliche Gebiete zu industrialisieren. Große, in der alten Heimat aufgegebene Unternehmen begannen im Westen noch einmal von vorn. Sie beschäftigten meist wieder ehemalige Firmenmitarbeiter, die als Fachkräfte unentbehrlich waren, gaben aber auch mehr und mehr Einheimischen Lohn und Brot. Eine Besonderheit stellte der Neuanfang von Spezialindustrien wie der Gablonzer Glas- und Schmuckindustrie dar, der mit der Gründung neuer Ortschaften einherging.
Die von den Neuankömmlingen gegründeten Unternehmen etablierten in den Westzonen bis dahin nicht ansässige Wirtschaftszweige wie den Textilmaschinenbau oder andere Bereiche der Textil- und Bekleidungsindustrie und trugen entscheidend zum wirtschaftlichen Aufschwung bei. Zu den Firmen, die sich nach 1945 erfolgreich in den Westzonen und später in der Bundesrepublik etablieren konnten, gehörte das Textilunternehmen Kunert und der Lebensmittelhersteller Schneekoppe.
Glasperlenkettenproduktion in Neugablonz, 1949. Gablonz an der Neiße in Nordböhmen wurde durch seine Glasbläserei und Schmuckindustrie weltweit bekannt. Nach der Vertreibung 1945 entstanden die Betriebe in Neugablonz bei Kaufbeuren in Bayern neu. Für den weltweiten Export wurden in Hamburg Ausstellungsräume eröffnet.
© bpk - Bildagentur für Kunst, Kultur und Geschichte / Foto: Germin
Werbeprospekt der Gablonzer Industrie in Neugablonz, 1952. Mit dieser Broschüre warb Neugablonz auch im Ausland für seine Spezialindustrie und lud internationale Kunden ein, die Stadt und ihre Betriebe zu besuchen.
© Isergebirgs-Museum Neugablonz
Hohlglasschleifer Willy Scheidler bei der Herstellung einer Schmuckschale in Neugablonz, 1950-1955. Neugablonz wurde zu einem Zentrum der Glas- und Modeschmuckproduktion, der berühmten "Gablonzer Bijouterie".
© Süddeutsche Zeitung Photo / Foto: Alfred Strobel
Besuch des Bundeskanzlers Konrad Adenauer in der Geigenbauersiedlung Bubenreuth bei Erlangen während einer Wahlreise, 11. September 1957. In Bubenreuth war 1949 der Grundstein gelegt worden für eine Wohn- und Arbeitssiedlung für die heimatvertriebenen Geigenbauer aus der alten böhmischen Geigenbauerstadt Schönbach am Eger.
© ullstein bild / Foto: dpa